Noch auf eine zweite Gefahr im Umgang mit der Sinnfrage möchten wir Sie gern aufmerksam machen. Sie besteht darin, dass wir die Sinnfrage vor uns herschieben – von einer Station unseres Lebens auf die nächste. Wir beantworten also die Sinnfrage nicht, sondern vertagen sie ständig – nach dem Motto: „Das kriegen wir später! Das Eigentliche kommt erst noch!“ Es gibt Menschen, die erwarten die Erfüllung ihres Lebens immer von dem Lebensabschnitt, der noch vor ihnen liegt. Erreichen sie ihn, ohne dass sich diese Erwartung erfüllt, dann verschieben sie Ihre Erwartung einfach auf die nächste Etappe. Da wiederholt sich dann dasselbe Spiel.
Dieses Verschiebespiel beginnt oft schon sehr früh. Bereits im Kindergarten denken Kinder: „Wenn ich erst in der Schule bin, dann wird alles besser.“ Und dann sind sie in der Schule und sagen: „Wenn ich hier bloß schon wieder raus wäre … Ach, wenn ich erst die blöde Schule hinter mir hätte …“ Dann ist endlich der Schulabschluss erreicht. Aber nicht die ersehnte Freiheit, sondern der berühmte Ernst des Lebens fängt an. Das Verschiebespiel geht weiter: „Wenn ich erst mal meinen Beruf habe, dann beginnt das Leben!“ Und dann steht man im Beruf und überlegt, ob nicht was anderes doch besser gewesen wäre. „Wenn ich erst mal meine Frau gefunden habe …“ Und dann finden sie sich und heiraten. Und es wird eine ganz normale Ehe – gar nicht so besonders aufregend, wie sie es sich vorher erträumt hatten. Ich spreche natürlich nicht von Ihnen, sondern von den anderen Leuten … „Wart‘ mal ab, bis das Kind da ist, dann geht`s noch einmal neu los mit uns beiden“, denkt die Frau. Und dann kommt das Kind. Und nun geht‘s wirklich los – nur ganz anders, als sich das beide vorgestellt hatten.
„Du“, sagt er ein paar Jahre später abends beim Glas Wein, „wenn die Kinder erst mal aus dem Haus sind, dann holen wir alles nach, was jetzt nicht möglich ist – vor allem das Reisen, das wir immer wieder verschoben haben.“ Und dann sind die Kinder aus dem Haus, und plötzlich merken die beiden: Es wird ein bisschen langweilig. „Wenn wir erst mal das Haus renoviert haben“, sagt sie, „dann kann das Leben noch mal schön werden!“ Wenn, wenn, wenn …
Und am Ende sitzen die beiden da – wenn sie es noch erleben – und blicken verklärt zurück: „Weißt du noch, damals?“, sagt sie über dem aufgeschlagenen Fotoalbum. Und beide bilden sich ein, sie hätten damals erfüllt gelebt.
Dabei haben sie damals (!) immer nur gesagt: „Das Eigentliche kommt erst noch!“, haben die Sinnfrage vor sich her geschoben, ein ganzes Leben lang vertagt und nie beantwortet. Die Sinnfrage als Verschiebespiel! Es ist zum Schmunzeln und tragisch zugleich. Wenn die beiden diese Wahrheit ertragen könnten, müsste man sie im Grunde fragen: „Wann habt ihr eigentlich wirklich gelebt? Wann habt ihr sinnerfüllt gelebt?“
Der Liedermacher Wolf Biermann hat ein kleines Lied geschrieben („Lied vom Donnernden Leben“). Darin heißt es:
„Das kann doch nicht alles gewesen sein,
das bisschen Sonntag und Kinderschrein.
Das muss doch noch irgendwo hingehn – hingehn!
Die Überstunden, das bisschen Kies,
und abends inne Glotze – das Paradies!
Darin kann ich doch keinen Sinn sehn – Sinn sehn.
Das kann doch nicht alles gewesen sein,
da muss doch noch irgendwas kommen!
Nein, da muss doch noch Leben ins Leben, eben!“
Da muss noch Leben ins Leben – ein Satz voller Sehnsucht, der den Wunsch nach mehr, nach etwas Wesentlichem offenbart.
Da liegt ein Mensch auf dem Sterbebett. Sein Körper signalisiert, dass es zu Ende geht. Aber er kann nicht sterben: „Ich kann nicht loslassen“, sagt er, „ich habe das Gefühl, ich habe noch gar nicht richtig gelebt!“
Geben Sie sich bei Ihrer Suche nach dem Sinn Ihres Lebens nicht mit vorschnellen Lösungen zufrieden – auch nicht mit vorschnellen frommen Lösungen. Was für Ihr Leben sinngebend sein soll, das muss es mit Ihrem Tod aufnehmen können!